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„Sind Sie oft wütend?“ Mit LongCOVID beim medizinischen Gutachter

Vorweg: Ich habe mich im März 2023 zum zweiten Mal mit Corona infiziert (ja, ich bin dreimal geimpft) und lebe inzwischen mit der Diagnose Post-COVID-19-Syndrom und ME/ CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue-Syndrom). Am 6. März 2025 hatte ich einen Termin beim medizinsichen Gutachter Dr. U.J. zur Feststellung meiner Arbeitsfähigkeit beziehungsweise meines Anspruchs auf Erwerbsminderungsrente.

Immer wieder berichten Betroffene von fehlender Versorgung und Inkompetenz medizinischer Fachleute. Auch ich habe den Besuch beim medizinischen Gutachter als demütigend und psychologisierend empfunden und ihn deshalb hier dokumentiert. Spoiler: Mein Antrag auf Erwerbsminderungsrente wurde abgelehnt.

Zum Termin beim Gutachter für meinen Antrag auf Erwerbsminderungsrente komme ich wie angekündigt in Begleitung meiner Freundin C., die auch Ärztin ist. Dr. J. öffnet die Tür. Er ist sehr groß, füllt den Türrahmen aus, um die 70. Es ist 20 Uhr, die Praxis wirkt altmodisch, klein, dunkel, außer uns scheint niemand dort zu sein.

„Sie können sich ins Wartezimmer setzen“, sagt er zu C. „Nein, ich möchte, dass meine Freundin bei der Untersuchung dabei ist“, wende ich ein. Er sagt, nein, das sei unüblich. „Wir unterhalten uns erst mal in Ruhe zu zweit“, C. könne ja später hinzukommen. Ich sage, dass ich bei jedem Arztbesuch begleitet werde, dass es damit nie Probleme gab. Wir diskutieren zehn Minuten, setzen uns schließlich durch. „Dann muss ich das aber im Bericht notieren und die Daten ihrer Freundin aufnehmen. Wie das im Bericht wirkt, weiß ich ja nicht.“

Er stellt mir Fragen zu meinen Symptomen, blättert durch meinen Antrag. „Da fehlt aber ein Stempel von Ihrer Hausärztin.“ Wer benutzt 2025 noch Stempel? denke ich und schweige. Nach den ersten Fragen wird klar: Er hat keine Ahnung vom Post-COVID-19-Syndrom oder von ME/CFS, das meine Hausärztin mir bescheinigt hat (ICD 10 G93.3 und U09.9). Er kennt nicht die Kanadischen Kriterien, nicht den Bell-Faktor, weiß nicht, was P.E.M. ist. „Sie konnten also an einem Tag die Treppe rauf- und wieder runtergehen und 24 Stunden später nicht mehr?“ „Ja.“ sage ich. „P.E.M. halt.“ Er beißt sich fest an den Symptomen Muskelschwäche und Erschöpfung. „Wie fühlt sich diese Erschöpfung an?“ – „Wie bei einer starken Grippe, nur ohne Schnupfen und Husten.“ Er ist nicht zufrieden, stellt wieder und wieder dieselben Fragen, findet: „Man ist ja bei einer Grippe nicht immer erschöpft!“ – „Dann bin ich wohl ein Sonderfall. Ich fühle mich bei einer Grippe sehr schwach, kann kaum aufstehen. So ähnlich ist es auch jetzt, aber halt seit zwei Jahren. Manchmal besser, manchmal schlechter.“

Er befragt mich zu meiner Schullaufbahn, Ausbildung, Studium, Beruf. Was hat das alles mit Long Covid zu tun, frage ich mich, antworte aber, dass ich freiberufliche Medienpädagogin und Journalistin sei. Was das sei, „Medienpädagogin“. Ich erkläre es. „Das müssen Sie ja nicht machen, dann können Sie ja auch im Kindergarten arbeiten.“

Nach einer halben Stunde bin ich zu erschöpft zum Sitzen, lege mich auf die Liege neben seinem Stuhl. Er schaut weiter in die Papiere, liest einen Bericht, in dem ich meinen Zustand schildere. Dort findet er in einem Satz zwei Begriffe, die das folgende Gespräch sicher fünfzehn Minuten prägen werden: „Angst“ und „depressive Gedanken“. Ich werde mich noch für diesen Satz verfluchen. Er will genau wissen, wieso ich wovor was für „Angstzustände“ habe, seit wann ich depressiv sei. „Ich habe keine Angstzustände!“ Ich setze mich auf, will ihm ins Gesicht schauen. „Ich habe einfach Angst, nie wieder gesund zu werden, keine Hilfe zu bekommen, nie mehr arbeiten zu können. Das ist doch menschlich.“ Meine Stimme wird kräftiger. „Ich bin auch nicht depressiv! Depressive Gedanken zu haben ist noch keine Depression! Ich bin verzweifelt, weil mir niemand helfen kann. Weil ich ständig mit dem Unwissen von Ärzt:innen konfrontiert bin. Diese dauernde Verharmlosung und Psychologisierung der Krankheit macht mich wütend.“ „Aha. Sie sind ja jetzt auch sehr wütend. Sind Sie öfter wütend? Und haben Sie da mal mit Ihrer Psychologin drüber gesprochen? Sie sind ja auch in Psychotherapie, sehe ich hier.“ Ich denke: Bin ich im falschen Film? Ich schaue C. an, lache, frage: „Bin ich oft wütend?“ Sie grinst schief, hebt die Schultern.

Der Arzt untersucht mich: „Jetzt mal hinsetzen. Aufstehen. Machen Sie mal drei Kniebeugen. Gut, wieder hinlegen, bitte.“ Unvermittelt schiebt er meinen Pulli am Hals ein Stück herunter und horcht mich ab. Ich bitte ihn, mir vorher zu anzukündigen, was er machen, wo er mich anfassen wird. Keine Reaktion. Ohne Ankündigung greift er mein Bein, in der anderen Hand ein Hämmerchen, wendet sich an C.: „Und in welcher Fachrichtung sind Sie unterwegs?“ – „Früher Neurochirugie. Jetzt Medizinethik.“ Der Arzt haut mit dem Hämmerchen auf mein Knie. Hält kurz inne und wiederholt: „Neurochirugie?“ Er kann seine Verblüffung, vielleicht auch Anerkennung, nur schwer verbergen. C. hat jahrelang Schädel aufgesägt und Gehirne operiert.  „Und das zweite habe ich nicht verstanden.“ Wundert mich nicht, denke ich.

Draußen empfängt mich A., nimmt mich in den Arm, ich breche in Tränen aus, kann kaum stehen. A. flüstert: „Ja, Liebes.“ Sie fährt mich mit dem Auto nach Hause. Meine Lebensgefährtin bringt mich mit Wärmflasche und heißem Kakao ins Bett. Wir schweigen lange. Mein Kopf drückt, mein Herz pocht, mein Körper will nur liegen. Dann sage ich: „Wie der geguckt hat, als C. gesagt hat, dass sie Neurochirugin ist.“  Wir müssen lachen.

Glossar

Post-Covid-19-Syndrom: anhaltende Symptome mehr als 12 Wochen nach einer Coronainfektion

ME/CFS: Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue Syndrom, (vermutlich neuroimmunologische) chronische Multisystemerkrankung

Kanadische Kriterien: Symptomfragebogen für die Kriterien zur Diagnose von CFS

Bell-Faktor: Maßstab zum Schweregrad von ME/CFS

P.E.M./ P.E.N.E.: Post Excertional Malaise bzw Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion, massive Verschlechterung der Symptome 24 bis 48 Std nach Belastung, kann Stunden, Tage, Wochen und Monate anhalten, einer der wichtigsten Indikatoren für die Diagnose von ME/ CFS